Erfahrungsberichte
Verlust des Sohnes
Ich hatte am Anfang massivste Schuldgefühle: Ich habe irgendetwas nicht getan, ich habe etwas übersehen oder etwas nicht gesagt. So richtig greifen konnte ich es gar nicht. Mein Sohn sprach mit mir darüber, dass er Probleme hat. Damals war er 26 Jahre alt. Er war ein eher introvertierter Typ und meinte, er hat Kontaktschwierigkeiten, Smalltalk liegt ihm nicht. Ich machte mir sehr große Sorgen und deshalb sprachen wir darüber, dass es hilfreich sein könnte eine Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Er begann die Therapie, welche zunächst gut anlief. Irgendwann ist dann trotzdem alles gekippt. Er war erwachsen, lebte mit seiner Freundin zusammen, ging täglich an seinen Arbeitsplatz, hatte Hobbys und unternahm regelmäßig Freizeitaktivitäten. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass J. über einen langen Zeitraum sehr ambivalent gewesen war. Einerseits hat er ganz normal gelebt, andererseits war er nicht glücklich - das wusste ich durch Gespräche mit ihm. Nur heißt das denn gleich, dass er sich das Leben nehmen wird? Dass es jemandem nicht so gut geht, ist der eine Punkt. Aber daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass er sich jetzt suizidieren, das ist ein unglaublicher Schritt, darauf bin ich nicht gekommen.
Ich habe früher gedacht, wenn sich jemand das Leben nimmt, dann hatte er nicht genügend Unterstützung im Umfeld. Insofern habe ich es nicht für möglich gehalten, dass J. einen Suizid unternimmt. Er hatte Unterstützung durch seine Familie, seinen besten Freund und seine Partnerin. Sie war eine ausgesprochen liebe, einfühlsame Freundin. Auch ich hatte zu ihr ein sehr enges Verhältnis.
Der Suizid von J. ist die größte Katastrophe für mich, vollkommen unfassbar und unvorstellbar. Niemals hätte ich geglaubt, dass sich eines meiner Kinder suizidiert! Über einen längeren Zeitraum habe ich extreme Schuld empfunden und überall nach Gründen und Erklärungen gesucht. Für sein gesamtes Umfeld war es einfach nicht fassbar.
Jetzt, mit dem Abstand von sieben Jahren, denke ich, dass wir als Eltern unsere Einflussmöglichkeiten wahrscheinlich zu hoch einschätzen. Wir konnten es anscheinend nicht verhindern. Ich hätte seine Probleme nicht lösen können. Ich konnte zwar mit ihm darüber sprechen, aber was hätte ich konkret tun können, um seine Smalltalk Schwierigkeiten mit seinen Mitmenschen zu lösen?
Verlust der Tochter
15. Oktober 2014 – der Tag an dem sich mein Leben schlagartig veränderte und nie mehr so werden würde wie es war. Es ist der Tag an dem meine 19-jährige Tochter Sarah sich das Leben nahm.
Es war 22 Uhr abends und es klingelte an der Tür, ich war alleine zu Hause. Die Polizei stand da und fragte: „Dürfen wir reinkommen?“. Es dauerte endlose Momente bis sie mir die Nachricht übermittelten. Den genauen Wortlaut weiß ich nicht mehr. Ich kann mich nur an meine Fassungslosigkeit und meine Wortlosigkeit erinnern.
Obwohl ich wusste, dass es ihr schlecht ging, hätte ich ihr so einen gewaltigen Schritt niemals zugetraut. Sie hatte seit Studienbeginn, und dem damit verbundenen Auszug aus der gemeinsamen Wohnung, eine Depression. Wir haben auch manchmal über Suizid im Allgemeinen gesprochen. Da sagte sie, sie könne so etwas nie tun, das sei ihr zu gewalttätig. Nachher dachte ich, sie war zu gut und zu sensibel für diese Welt. Und sie war so schlau und ehrgeizig, womit ein weiterer Grund für ihre Verzweiflung gegeben war. Sie hatte ein Abitur von 1,1 gemacht. Sie hat alles gegeben, weniger war nicht möglich. Das Studium lag wie ein neuer Berg vor ihr.
Im Rückblick verstehe ich noch Einiges mehr, obwohl wir uns immer und besonders in unserer letzten Zeit sehr nah waren und viel geredet haben. Und doch könnte ich heute nicht sagen, was ich hätte anders machen können. Ich habe immer mein Möglichstes gegeben. Es hat nicht gereicht. Aus dieser Ohnmacht ist bei mir nach und nach das Gefühl erwachsen, dass wir Menschen nicht alles beeinflussen können, auch mit all unserer Kraft und mit all unserer Liebe nicht. Es muss etwas Höheres geben, das wir nicht mit unserem Geist erfassen können. Nach Sarahs Tod wurde dieses Gefühl verstärkt durch die Dinge, die mir begegneten. Ich hatte immer mal wieder das Gefühl „Botschaften“ von Sarah zu bekommen.
Manchmal hatte ich Sätze im Kopf, von denen ich nicht wusste wo sie herkamen. Z.B. in der ersten Nacht, nach ihrem Tod kam der Satz: „Deine Zeit ist noch nicht gekommen.". Und ich bekam immer wieder Hilfe und Unterstützung, oft von Menschen, von denen ich es überhaupt nicht erwartet hätte. Genauso überraschte mich die eine oder andere Reaktion von Menschen, von denen ich mehr erwartet hätte. Da fasste ich schnell den Entschluss – denn ich spürte hier geht es jetzt für mich um das nackte Überleben – meinen Blick auf die Dinge zu lenken, die da sind und nicht auf die, die nicht da sind. Ich habe festgestellt, es war ziemlich viel da. Ich war schon immer ein offener Mensch und musste einfach reden. Immer wieder reden. Und am Anfang begegneten mir ständig Menschen, mit denen ich darüber reden konnte, manchmal Fremde.
Nach sechs Wochen schloss ich mich einer Selbsthilfegruppe an, die mir Halt gab. Gleichgesinnte, die wussten wovon ich sprach. Nach sechs Monaten hatte ich das Gefühl, ich kann doch jetzt nicht einfach meinen Alltag weiterleben, als sei nichts gewesen. Ich begab mich in eine zehnwöchige Reha in einer psychosomatischen Fachklink, die mir sehr gut tat. Es ging gar nicht so sehr um die Trauer, obwohl auch dafür Raum war (z.B. Stille und Meditation, aber auch einige Gleichbetroffene). Es ging um Selbstreflexion, wer bin ich und was habe ich für Ressourcen, um so eine Krise zu überleben. Und nicht nur zu überleben, sondern ein schönes, lebenswertes Leben zu leben. Ich weiß, dass Sarah das gewollt hätte und dass es niemandem nutzen würde, wenn ich es mir den Rest meines Lebens schlecht gehen ließe.
So brachte mich ein Ereignis dazu, nach einem Jahr die Leitung der Selbsthilfegruppe zu übernehmen, in der gerade eine neue Leitung gesucht wurde: Mein Partner und ich mussten mit ansehen wie sich ein junger Mann vom Zug überfahren ließ. Ich fragte mich, wie kann es sein, dass ausgerechnet uns so etwas widerfährt?! Und da ich, nach dem ersten Schock, das Gefühl hatte keine Berührungsängste mit dem Thema Suizid und mit Menschen die davon betroffen sind zu haben, war es für mich das Zeichen mein Leid für andere Menschen „nutzbar“ zu machen und die Gruppe zu übernehmen. Mir tat die Gruppe gut, zum einen, weil wir das gleiche Schicksal hatten und es keiner großen Erklärungen bedurfte und zum anderen hatte ich das dringende Bedürfnis, trotz des großen Schmerzes, wieder ein bisschen Licht und Erleichterung in mein Leben und in das Leben Anderer zu bringen. Denn nicht alleine zu sein, in so einer Lebenslage, war für mich ein großer Baustein zur Heilung.
Im Austausch mit Betroffenen habe ich Stück für Stück verarbeitet. Fragen nach dem Warum, Schuldgefühle, Einsamkeit – Sarah war mein einziges Kind, keine Mutter mehr zu sein. So viele Fragen, auf die wir nie eine Antwort bekommen werden. Die Situation von Sarah war doch nicht so außergewöhnlich. Natürlich gab es Probleme, aber keines davon war Grund genug – für mich – sein wertvolles Leben zu früh zu beenden. Für sie war es anders, ich habe sie manchmal gedrängt doch mal ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Das hat sie dann getan… Ihr Suizid war ihre erste eigene, einsame Entscheidung. Durfte ich dann sagen, es war für sie die falsche Entscheidung? Aus meiner Sicht natürlich! Danach habe ich mehr über die Krankheit Depression erfahren. Über den Tunnelblick und die Unfähigkeit andere Lösungen zu sehen als den Tod. Einmal sagte mir jemand, der einen Suizidversuch überlebt hat, man möchte eigentlich nicht sein Leben beenden, sondern man möchte nur, dass die Probleme aufhören. Man sieht keine andere Lösung. Sarah war immer auf der Suche nach einer Lösung, sie hat viel mit anderen gesprochen.
Aber nichts konnte sie annehmen für sich selbst. Sie hatte einen Freund, Freundinnen und viele Gesprächspartner. Wie ein Schwamm war sie und hat alles aufgesaugt, wie die anderen es machen. Aber es hat ihr einfach nicht geholfen bei der Lösung ihres eigenen Problems. Ich habe Übungen mit ihr gemacht, Entspannung und positives lösungsorientiertes Denken. Sie hat alles mitgemacht und war dann auch jedes Mal etwas erleichtert. Doch sobald ich mich umdrehte, rollte sie sich auf dem Sofa zusammen und war wieder in sich gekehrt.
Depression ist eine schlimme Krankheit – wie Krebs – die zum Tode führen kann. Und da hilft manchmal gar nichts, keine Liebe, keine Therapie. So glaube ich an das Schicksal. Und ich glaube auch daran, dass alles im Leben einen Sinn macht. Auch wenn wir es im Moment nicht so sehen können. Selbst aus dem größten Leid sind manchmal ganz große Dinge entstanden. Ich weiß, dass ich Sarah wiedersehen werde, und eigentlich ist sie gar nicht wirklich weg – ich spüre sie sehr stark in meinem Herzen. Wenn der größte Schmerz vorbei geht und das tut er – das ist wohl der Selbstschutz im Menschen - dann bleibt die Liebe und die Erinnerungen. Die nimmt mir keiner.
Und weil ich auf diese Weise keine Angst mehr vor dem Tod habe, lebe ich gut. Ich werde noch etwas Gutes tun mit meiner Erfahrung, denn einfühlen kann man sich oft nur, wenn man es selbst erlebt hat.
Ich habe eine neue Beziehung zu Sarah aufgebaut, dabei hat mir u.a. ein Trauerseminar von AGUS und eine Trauerreise geholfen. Sie ist ja nicht weg für mich, ich spreche beispielsweise mit ihr und zu besonderen Tagen schreibe ich ihr einen Brief. Ich habe nicht das Gefühl mich ganz und gar von ihr verabschieden zu müssen. Wovon ich mich verabschieden muss, ist unsere gemeinsame Zukunft - also die irdische Zukunft. Ich werde nicht mehr sehen, wie sie studiert, wie sie ihren Abschluss macht, wie sie ihr Erwachsenenleben lebt und wie sie Kinder bekommt. Es war für mich wichtig zu wissen, wovon ich mich verabschiede und was bleibt, was bis zu meinem Lebensende bleiben wird.